Etwas zu sagen haben
"Das wichtigste ist, dass man etwas zu sagen hat, - oh damit kommt man weit". Ich musste eben gleich googeln von wem das war, - Schopenhauer. Das "etwas zu sagen haben" verstehe ich durchaus in dem Sinn, dass etwas gesagt werden muss. Seitenfüllender Kolumnenjournalismus fällt nicht darunter.
In jungen Jahren hatte ich mit einigen Beiträgen für das Tages-Anzeiger-Magazin (die damals gesagt werden mussten) einen ziemlichen Publikumserfolg, die Leute haben in der Strassenbahn davon gesprochen, das ZEIT-Magazin hat nachgedruckt, die wichtigste Schweizer Literaturagentin wollte mich vertreten und der grosse Verleger Kindler und seine paradiesvogelartige Frau luden zum Diner ins Berner Nobelhotel Bellevue, um mich unter Vertrag zu nehmen. Ich hatte aber damals nichts weiteres zu sagen und musste ablehnen.
Nur wusste ich, dass ich später einmal - mit Abstand und nach langem Überlegen - wohl einiges aus meiner ärztlichen Tätigkeit aufzuschreiben hätte.
In den darauffolgenden Jahrzehnten scheiterten allerdings alle Schreibversuche. Die Hemmnisse waren vielfältig: Solang man politisch tätig war, wäre einem jede Äusserung als Profilierungsversuch ausgelegt worden. Über einige Geschichten war ich so wütend, dass mir eine faire Darstellung unmöglich war. Und dann war das Problem des Arztgeheimnisses.
Aber jetzt werden viele meiner Altersgenossen krank, mit Parkinson, Hirnschlag, Anfällen oder Demenz. Wenn man noch schreiben wollte, so musste es jetzt sein. Politische Absichten kann man nicht mehr vermuten, die Zeit hat Abstand geschaffen, viele Patienten sind schon lange verstorben, andere konnte man unkenntlich machen. Und immerhin musste ich ja vieles im Namen und in Vertretung eben dieser Patienten aufzeichnen, die sich selber nicht mehr äussern oder wehren konnten. So schrieb sich im Herbst 2015 das Büchlein "Begegnungen mit dem Leibhaftigen" fast von selbst.